Die Tötung bin Ladens – eine Lügengeschichte? | NZZ (2024)

Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh bezichtigt Barack Obama in seinem jüngsten Artikel der Lüge: Osama bin Laden sei ganz anders gestorben, als es das Weiße Haus dargestellt habe. Muss die Geschichte der Al-Kaida umgeschrieben werden? Darüber diskutieren jetzt die Experten.

Seymour Hersh ist eine Legende. Der amerikanische Investigativ-Journalist hat zwei der größten Kriegsverbrechen seines Heimatlandes aufgedeckt: das Mỹ-Lai-Massaker während des Vietnamkriegs und die Misshandlung von Häftlingen im irakischen Gefängnis Abu Ghraib. 1970 wurde er mit dem Pulitzer-Preis für internationale Berichterstattung ausgezeichnet.

Der 78-Jährige hat sich im Laufe seiner langen Karriere viele Feinde gemacht. „Hersh ist im amerikanischen Journalismus das, was einem Terroristen am nächsten kommt“, beschrieb ihn einst ein Berater von George W. Bush. Hersh hat das vermutlich kaum gekratzt. „Es gab noch nie einen Präsidenten, der mich leiden konnte“, sagte er einmal in einem Interview, „ich nehme das als Kompliment.“

Der aktuelle US-Präsident dürfte in dieser Hinsicht keine Ausnahme sein. In seiner jüngsten Publikation hat Seymour Hersh die von Barack Obama angeordnete Tötung von Osama bin Laden am 26. Februar 2012 unter die Lupe genommen. Und sein Urteil ist vernichtend: „Die Geschichte des Weißen Hauses hätte von Lewis Carroll geschrieben worden sein können“, schreibt er in dem Artikel, der am Sonntag von der London Review of Books veröffentlicht wurde. Lewis Caroll – das ist der Verfasser einer der berühmtesten Fantasiegeschichten der Welt: Alice im Wunderland.

Operation Neptuns Speer

Nach Angaben der US-Regierung hatten inhaftierte Al-Kaida-Führer einen Kurier bin Ladens identifiziert, der dann die CIA zu dessen Aufenthalt in Abbottabad – nur 40 Meilen von der pakistanischen Hauptstadt Islamabad entfernt – führte. Demnach wurde der damals meistgesuchte Terrorist der Welt am frühen Morgen des 2. Mai 2011 im zweiten Stock seines Anwesens von Spezialeinheiten der Navy Seals im Zuge eines Schusswechsels getötet. Sein Leichnam wurde noch am selben Tag im Arabischen Meer bestattet.

Alles erstunken und erlogen also? Nein, sagt Hersh. Nicht alles, aber vieles. Die „himmelschreiendste Lüge“ sei die Behauptung gewesen, die zwei wichtigsten militärischen Führer Pakistans seien über die US-Operation „Neptuns Speer“ in Pakistan nicht informiert gewesen. General Aschfaq Parvez Kayani, der Armeechef, und General Ahmed Schuja Pascha, der Chef des pakistanischen Geheimdienstes (ISI) „wussten im Vorhinein über den Angriff Bescheid“, schreibt Hersh. „Bin Laden war auf dem Gelände in Abbottabad seit 2006 ein Gefanger des ISI.“

Hersh zufolge enthält der Bericht der Obama-Regierung aber viele weitere „falsche Elemente“. Er fordert folgende Korrekturen ein:

Kein Kurier, sondern ein Walk-in: Wo sich bin Laden aufhielt, erfuhr die US-Regierung demnach nicht, indem sie sich an die Fersen seines Kuriers heftete, sondern durch einen sogenannten „Walk-in“: Dabei handelte es sich nach Angaben von Hersh um einen ehemaligen ranghohen pakistanischen Geheimdienstoffizier, der sich im August 2010 an den CIA-Residenten an der US-Botschaft in Islamabad wandte. Er habe den Aufenthaltsort des prominenten ISI-Gefangenen gegen einen großen Teil der 25 Millionen US-Dollar verraten, die die Amerikaner als Kopfgeld für bin Laden ausgelobt hatten.

Pakistani halfen mit: Die pakistanischen Militärführer Pascha und Kayani waren nach der Darstellung von Seymour Hersh über die Pläne der Amerikaner nicht nur informiert. Der Armee- und der Geheimdienstchef hätten unter anderem dafür gesorgt, dass die US-Helikopter das Bin-Laden-Anwesen ungestört von der pakistanischen Luftabwehr erreichen konnten. Auf Anordnung des ISI sei außerdem der Strom in der Stadt abgestellt worden.

Bin Laden wehrte sich nicht: Hersh widerspricht auch den Regierungsberichten über einen Schusswechsel vor der Tötung bin Ladens. „Es gab kein Gefecht, als sie (die Navy Seals) das Anwesen betraten“, schreibt er. „Die Wächter des ISI waren gegangen.“

Kein Interesse am Überleben bin Ladens: Anders als vom Weißen Haus behauptet, hätten die USA keinerlei Interesse daran gehabt, bin Laden lebend zu fassen. Kayani habe gesagt: „Ihr müsst ihn töten, sonst gibt es keinen Deal“, schreibt Hersh und beruft sich dabei auf einen hochrangigen Ex-Geheimagenten, dessen Aussage die Basis für den Artikel darstellt.

Bin Laden hatte kaum noch operative Bedeutung: Behauptungen der US-Regierung, bin Laden sei bis zu seinem Tod „ein aktiver Führer der Al-Kaida geblieben“ seien erfunden, schreibt Hersh. Seit seinem Umzug nach Abbottabad im Jahr 2006 habe man nur noch eine Handvoll Terror-Attacken mit seiner Al-Kaida in Verbindung bringen können. „Das Weiße Haus musste den Eindruck erwecken, er hätte noch operative Bedeutung“, zitiert Hersh seinen Ex-Geheimdienstler. „Warum sollte man ihn sonst töten?“

Impfprogramm fälschlich beschuldigt: Osama bin Laden ist mittels DNA-Test identifiziert worden, das sagt auch Seymour Hersh. Dies sei allerdings nicht mithilfe eines Impfprogramms geschehen, wie später behauptet. Diese vollkommen legitime medizinische Kampagne sei vielmehr als Projekt der CIA diskreditiert worden, um jenen Arzt zu schützen, der tatsächlich die DNA-Probe des Al-Kaida-Chefs beschafft hatte.

Erfundene Seebestattung: Auch die angebliche Seebestattung ist nach Hershs Bericht eine Lüge. Die angeblich von Bord des Flugzeugträgers USS Carl Vinson ausgeführte Zeremonie habe nie stattgefunden, schreibt er. Seinen Informationen nach haben die Seals die Leiche des Terroristen mittels Gewehrfeuer in Stücke zerfetzt. „Glaubt man den Seals, war von bin Laden nicht mehr allzu viel übrig, was man ins Meer werfen hätte können.“

Die Reaktionen auf den Artikel des großen Aufdeckers sind erstaunlich zurückhaltend. Weder die US-Regierung noch jene Pakistans haben sich bisher zu den Vorwürfen geäußert. Überraschender ist jedoch, dass sich auch die meisten Al-Kaida-Beobachter in Thinktanks und Medien mit einem Urteil zurückhalten.

Mehrere von ihnen haben zu bedenken gegeben, dass Hersh sich vor allem auf zwei Quellen stützt – beide sind im Ruhestand und verfügen daher vermutlich nur über Informationen aus zweiter Hand, der amerikanische Informant (eben jener bereits erwähnte ehemals hochrangige US-Geheimdienstler) bleibt sogar anonym. Andere kritisierten, dass eine Sicherheitsanalystin namens R. J. Hillhouse bereits im August 2011 nahezu identische Vorwürfe erhoben habe. Wieder andere erinnern an höchst umstrittene Artikel aus den Jahren 2013 und 2014. Hersh hatte darin unter anderem angezweifelt, dass der syrische Präsident Assad hinter einem Giftgasangriff mit 1.700 Toten im August 2013 stand – und stattdessen dschihadistische Rebellen der Al-Nusra-Front verdächtigt.

„Was wahr ist, ist nicht neu, was neu ist, ist nicht wahr“

Eine klares Urteil fällte jedoch Peter Bergen, der Terrorismusexperte von CNN. „Was wahr ist, ist nicht neu, was neu ist, ist nicht wahr“, zitierte ihn ein CNN-Kollege, der Seymour Hersh über seinen Artikel interviewte. Hersh verteidigte den Text mit großer Entschlossenheit: „Die Geschichte beruht nicht nur auf einer Quelle, ich habe sie überprüft und verifiziert“, sagte er. „Ich bin schon lange in diesem Job und verstehe sehr genau die Konsequenzen meiner Behauptungen.“

Sollte sich seine Darstellung bestätigen, könnte das nicht nur die persönliche Glaubwürdigkeit und die politische Bilanz von Barack Obama beschädigen. Der Tod von bin Laden spielt auch eine wichtige Rolle in der amerikanischen Diskussion über Folter. CIA-Chef John Brennan verteidigte den Einsatz „verschärfter Verhöre“ unter anderem damit, sie hätten jene Informationen geliefert, die später zum Al-Kaida-Chef geführt hätten. Diese Darstellung war schon vor dem Erscheinen von Hershs Artikel höchst umstritten. Sollte das Wissen über bin Ladens Versteck tatsächlich von einem „Walk-in“ stammen, wäre das Wasser auf die Mühlen der Folter-Kritiker.

Wenn Hersh recht habe, sei es der CIA gelungen, Hollywood dazu zu bringen, PR für Folter zu machen, kommentierte Kenneth Roth, der Chef der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, noch Sonntagnacht auf Twitter. Er meinte damit „Zero Dark Thirty“, Kathryn Bigelows Thriller über die Jagd nach Osama bin Laden, der schon vor dem Drehstart für heftige Diskussionen über die Kontakte der Filmemacher zu staatlichen Quellen sorgte. Zahlreiche Kritiker empörten sich nach dem Erscheinen des Films vor allem darüber, dass er die Folter als legitimes Mittel zum Zweck darstelle.

Sollten sich Hershs Vorwürfe nicht entkräften lassen, haben aber auch seine Kollegen ein Problem, mahnte Jay Rosen, Professor für Journalismus an der New York University, via Twitter. Sie müssten dann damit leben, jahrelang für eine massive Desinformationskampagne eingespannt worden zu sein.

Die Tötung bin Ladens – eine Lügengeschichte? | NZZ (2024)
Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Delena Feil

Last Updated:

Views: 6107

Rating: 4.4 / 5 (65 voted)

Reviews: 88% of readers found this page helpful

Author information

Name: Delena Feil

Birthday: 1998-08-29

Address: 747 Lubowitz Run, Sidmouth, HI 90646-5543

Phone: +99513241752844

Job: Design Supervisor

Hobby: Digital arts, Lacemaking, Air sports, Running, Scouting, Shooting, Puzzles

Introduction: My name is Delena Feil, I am a clean, splendid, calm, fancy, jolly, bright, faithful person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.