Verachtung der eigenen Kultur im Westen: Was steckt hinter der Oikophobie? (2024)

Seit der Antike ist Selbsthass ein wiederkehrendes Symptom dekadenter oder schwächelnder Gesellschaften. Ein Essay

Marc Neumann, Washington

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«Death to America» hallte es durch die Häuserschlucht von Manhattans Wall Street. Am Tax Day, dem 15.April, wünschten Teilnehmer einer Pro-Palästina-Demo vor der Börse, dass die USA abbrennen sollen. Auf amerikanischem Boden, in der kreativen und multikulturellen Metropole, unweit der 9/11-Gedenkstätte, priesen Extremisten Usama bin Ladin und verbrannten US-Flaggen.

Videos in den sozialen Netzwerken wiesen einen namhaften Teil der Demonstranten als weisse US-Angloamerikaner aus – jene privilegierte Kaste also, die von der Freiheit von Märkten und Menschen in New York City ganz besonders profitiert. Dies nicht zuletzt, um politischen Protest äussern zu können.

Gefährlich wie Xenophobie

Oft wird die Verantwortung für diesen Selbstwiderspruch Einflüssen wie der Postmoderne und ihren relativistischen, postkolonialen Spielarten zugeschrieben. Vergessen geht indes ein psychoemotionales Element: der innere Konflikt der Protestierenden, die genau jene Bedingungen anprangern, die ihre eigene Identität erst ermöglichen. Die Rede ist von Selbstkritik, übersteigert als Selbstverachtung und Selbsthass.

Einer, der dieses Phänomen erfrischend beleuchtet, ist Benedict Beckeld. In seinem Buch «Westliche Selbstverachtung – Oikophobie im Niedergang von Zivilisationen» (2022) beschreibt und erklärt der in Schweden geborene und in New York lebende Philosoph den Sachverhalt. Oikophobie ist die Angst und Abscheu vor der eigenen Kultur. Sie steht im Gegensatz zur Xenophobie, der Angst vor dem Fremden und Anderen.

Der Begriff selbst ist relativ wenig vorbelastet. Im 19.Jahrhundert wurde er gelegentlich für romantisches Fernweh im Sinne der deutschen Wanderlust gebraucht. Erst der konservative englische Philosoph Roger Scruton (2020 gestorben) hat ihn popularisiert. Im 1993 erschienenen Aufsatz «England and the Need for Nations» beschrieb Scruton die Oikophoben als Intellektuelle und Eliten. Als «Verteidiger des aufgeklärten Universalismus gegen lokalen Chauvinismus» verunglimpften diese Brit-«Oiks» die eigene nationale Tradition und Kultur zugunsten höherer, internationaler und stärker transnationaler Werte. Scruton warnte vor einem Gegenreflex – und sah gewissermassen den Brexit voraus.

Sittenzerfall und Zynismus bei den Athenern

Benedict Beckeld geht über Grossbritannien und Europa hinaus. Er erhebt Oikophobie in den Status einer kulturhistorischen Konstante des Westens: Sie ist demnach ein Merkmal einer dekadenten Gesellschaft, die ihren Zenit überschritten hat. Wie er an Beispielen der griechischen und römischen Antike, der englischen, französischen und amerikanischen Moderne vorexerziert, folgen auf militärische Erfolge oder wirtschaftliche und politische Errungenschaften Sättigung und Langeweile. Man sehnt sich nach Neuem, dem exotisch Anderen, probiert es aus, beginnt zu vergleichen, zu relativieren und zu zweifeln, um die eigenen Bräuche und Gewohnheiten zu verwerfen.

Ein gutes Beispiel geben die Griechen ab. Nach Siegen in den Perserkriegen im 5.Jahrhundert vor Christus werden die bärtigen Haudegen und heldenhaften Hopliten zu friedlichen Bürgern in wohlhabenden, protodemokratisch regierten und verweichlichten Stadtstaaten wie Athen. Dort beginnt die Oikophobie: Immer mehr Bürgerrechte und Gleichberechtigung (wie etwa Plato in der «Republik» beklagt), demografische Vielfalt, philosophischer und ästhetischer Spleen, Sittenzerfall und Zynismus spalten und schwächen die Athener.

Man hinterfragt sich bis hin zum Selbsthass, wie etwa Diogenes von Sinope. Der Kyniker rümpft über alles Griechische die Nase, entsagt im Fass dem griechischen Leben, derweil er sich selbst als «kosmopolites» bezeichnet. In der oikophobischen Nabelschau übersieht Athen die Bedrohung durch den Mazedonier Philipp II., den Vater Alexanders des Grossen – und unterliegt in der Schlacht von Chaeronea (338 v.Chr.). Daran änderten auch Kritiker wie Aristophanes nichts, der in der Komödie «Die Vögel» die korrupten Athener Verhältnisse und in «Lysistrata» nicht nur starke Frauen, sondern auch die Vernachlässigung der Kriegsführung gegen Sparta anprangert.

Affinität zu reaktionärem Wertekonservatismus

Das oikophobische Muster kehrt in der Geschichte immer wieder, wenn ein Imperium bröckelt. Zunehmende Diversität in der Bevölkerung – etwa durch Sklaven und Christen in Rom oder Einwanderer aus Kolonialgebieten in England – führt gemäss Beckeld immer zur Hinterfragung der eigenen Tradition. Die Inklusion von Andersdenkenden oder -gläubigen nährt Kulturrelativismus und endet mit der Entfremdung vom Eigenen und der Verklärung des Anderen.

Auch Kunst und Kultur, religiöse oder wissenschaftlich positivistische Strömungen werden zu Experimentierfeldern für Oikophobe. Auf die Spitze getrieben, lässt sich hier der Bogen zur Gegenwart schlagen: Ideale der Diversität, Inklusion, Gleichheit und Gleichberechtigung untergraben die bestehende Ordnung. Gegen sich selbst gewendet, münden sie in der Verachtung all dessen, was Grundlage der eigenen Position war. Der postkoloniale Furor, der sich derzeit auf der Strasse und an Universitäten entlädt, hat viel mit der Identifikation mit fremden Kulturen, Nationen und Religionen zu tun.

Freilich ist Beckelds Theorie der Oikophobie anschlussfähig zu einem reaktionären Wertkonservativismus. Antike Kriegsgurgeln, bodenständige Bauern und brave Normalbürger sind für westlichen Selbsthass und Dekadenz nicht anfällig. Folgte man ihrem Beispiel, so suggeriert der Autor, fielen Zivilisationen nicht auseinander. Dagegen liesse sich einiges einwenden, von der Wichtigkeit von allgemeinen Gütern wie Gerechtigkeit und Freiheit bis zum dialektischen Fortschritt aus dem Geist der Oikophobie. Immerhin bleibt Beckeld meist ambivalent und beschränkt sich deskriptiv – und fatalistisch – auf die Betrachtung des Phänomens. So sind seine Gedanken zu westlichem Selbsthass bedenkenswert.

Benedict Beckeld: Western Self-Contempt: Oikophobia in the Decline of Civilizations. Cornell University Press, Ithaca 2022, 264S., 51.90 Fr.

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